Theo erhob sich, trotz Müdigkeit galt es, einen klaren Kopf zu bekommen und die nächsten Schritte genau zu planen. Als Hanne das leise Zuziehen der Tür hörte, atmete sie hörbar auf. Neben der Panik des kleinen Jungen in ihrem Arm, trat ihr eigenes Leid zurück. Sie summte leise, während sie ihn sanft wiegte, bis er wieder erschöpft eingeschlafen war. Nicht einmal die Namen der Kinder kannte sie. War der Junge in der Wiege überhaupt getauft? Konnte sie beiden Knaben einfach Namen geben oder war dazu eine weitere Taufe nötig? Sie würde am kommenden Tag Pfarrer Keller aufsuchen und seinen Rat einholen müssen. Die Augen des Größeren erinnerten sie vage an jemanden. Kannte sie gar die Kindsmutter? Was hatte dieser grauselige Kerl an Ehemann nur an sich, dass sich die Weiber anscheinend reihenweise schwängern ließen. Was für ein unlauterer Kerl! Mochte die Franzosenkrankheit über ihn kommen, je schneller desto besser. Wie sie es verhindern konnte, dass er mit ihr seine Fleischeslust befriedigte, wusste sie noch nicht. Aber es würde ihr schon noch etwas einfallen! Vor Einbruch der Morgendämmerung verlangte das Kind in der Wiege erneut nach Hannes Brust, die sie ihm schläfrig gab. Kurz darauf klopfte es kurz an der Schlafkammertür, dann trat Theo ein. In der Hand hielt er zu Hannes Verblüffung eine Schale mit dampfendem Morgenbrei, die er ihr hinhielt. „Weib, lasst uns vernünftig miteinander reden.“ Hanne schluckte eine giftige Erwiderung hinunter, während sie den Jungen in die Wiege zurücklegte, schnell ihr Unterkleid überzog und dann misstrauisch die volle Schale entgegennahm. Vorsichtig kostete sie. Der Brei schmeckte gut, musste sie sich widerwillig eingestehen. Trotzdem, sie wollte Theo mit Verachtung strafen. Sollte ihr Gatte doch reden, was er wollte, sie würde keinen Ton von sich geben! „Ich weiß nicht, wessen Kinder das sind, die gestern für euch abgegeben wurden. Meine können es nicht sein. Vielleicht überlegt ihr einmal, ob sie nicht aus eurem Umkreis stammen könnten.“ Hanne keuchte vor Entrüstung, am liebsten hätte sie die Schüssel mit dem Brei über den Kopf ihres neuen Gatten ausgeleert.
Das war ungeheuerlich! So einfach war das für den Kerl? Er leugnete alles ab und schob ihr die Schuld zu?! „Die Seilerei ist in einem schlechten Zustand, in einem sehr schlechten. Bertram ist vielleicht ein guter Handwerker aber vom kaufmännischen versteht er überhaupt nichts.“ Sicher, jetzt erzählt mir noch, ihr könntet lesen und schreiben, dachte Hanne giftig, während sie heftig kaute. Ihr mit Getreidebrei gefüllter Mund verhinderte eine heftige Erwiderung. „Und das Haus hier ist ebenfalls desolat. Es muss von Grund auf ausgebessert werden. Das Dach ist löchrig, der Schuppen fällt fast in sich zusammen und mein Pferd habe ich lieber in einem Mietstall eingestellt, bevor es von herabfallenden Balken unseres Stalls erschlagen wird. Am besten…“ „Wollt Ihr damit sagen, mein verstorbener Ludwig war ein schlechter Handwerker?“ Der Brei im Mund war hinuntergeschluckt. Das war jetzt doch zu viel, das konnte sie auf keinen Fall auf sich sitzen lassen. Ihr ehrenhafter, verstorbener Gatte wurde von diesem Trunkenbold herabgesetzt und beleidigt! „Aber nein. Ludwig war ein fleißiger und gewissenhafter Mann – zumindest was seine Seilerwerkstatt anging.“ Theo spürte erstmalig einen leisen Hauch an Mitleid für die junge Frau, die sich wieder unter ihr Laken verkrochen hatte. Wenn es auch nur ein Weib war, auch sie war Umständen ausgesetzt, die sie nicht beeinflussen konnte. Und er musste sich irgendwie mit ihr vertragen. Selbst wenn sie keifte und zeterte. Er musste Ruhe in sein Heim bringen. Seine Rache würde Zeit und Geduld erfordern. Dafür brauchte er Ruhe und keinen Zwist im eigenen Heim. Seufzend sah er auf sein Weib, das ihn misstrauisch von der Seite anblickte. Über was konnte er sich mit ihr unterhalten, ohne dass sie ihn wieder mit Vorwürfen überschüttete? „Wollt ihr mir nicht erzählen, wie Ludwig gestorben ist? Ich erfuhr nur, dass es ein Unfall war. Doch die näheren Umstände kenne ich nicht.“ Theo fand, dass er mit dieser Frage neutrales Terrain betreten hatte. Hanne schluckte und drehte ihr Gesicht weg. Theo ließ sich auf seine Seite des Lagers sinken. „Nun kommt schon, bis zur Dämmerung können wir doch beide nicht mehr einschlafen.“ Und Hanne erzählte ihre Geschichte, bis der Morgen graute. (…)